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Warum der Waffenstillstand scheitern musste

Über die Hintergründe des Kriegs im Gazastreifen

Ich bin sicher, wir werden irgendwann in der Lage sein, in all den anderen Teilen dieses Landes zu siedeln, sei es durch gegenseitiges Einverständnis mit unseren Nachbarn, sei es durch Gewalt. Errichtet jetzt einen jüdischen Staat, selbst wenn es nicht im ganzen Land ist. Der Rest wird im Laufe der Zeit noch kommen. Er muss kommen. David Ben Gurion 1937 in einem Brief an seinen Sohn Amos[1]

Diskurse über politische Ereignisse haben oft die Tendenz, sich zu verselbstständigen. Irgendwann setzen sie sich in den Köpfen fest und werden als wahr angenommen. Auf der Basis dieser "Wahrheit" werden dann Wertungen vorgenommen und politische Entscheidungen getroffen, ohne dass diese "Wahrheit" mit empirischen Tatsachen abgeglichen wird. Diskurse werden dann selber zu gesellschaftlicher Realität und zu einem politischen Machtfaktor. Die Wahrnehmung lässt sich geradezu archetypisch an der Rezeption der Ereignisse im Gazastreifen nachvollziehen. Problematisch werden solche "diskursiven Wahrheiten" jedoch, wenn sie in Realitäten eingreifen, die eben nicht deckungsgleich mit denen des Diskurses sind, der über diese Realitäten zirkuliert – vor allem, wenn es wie im Gaza um das Leben tausender Menschen geht.

Die gängige Grundhypothese über den Krieg in Gaza besagt, die HAMAS[2] habe den Krieg durch die Aufkündigung des Waffenstillstandes mit Israel, der am 19. Juni 2008 in Kraft getreten war, provoziert. Die Begründung: Die HAMAS habe israelische Orte ständig mit Qassam-Raketen beschossen. Deswegen hätte Israel sich wehren müssen. Die Ausschaltung des militärischen Potentials der HAMAS sei eine Voraussetzung für den Frieden in der Region. Alle anderen Hypothesen, wie die, dass die HAMAS bewusst Zivilisten als menschliches Schild benutze, dass sie den Tod von Zivilisten bewusst einkalkuliere, erscheinen dann ganz logisch als Konsequenz ihrer Friedensunwilligkeit und fanatischen Militanz.

Die Dämonisierung der HAMAS, die Konstruktion einer vermeintlichen Dichotomie zwischen der ("bösen") "radikal-islamistischen" HAMAS und der ("guten") "moderaten" al-Fatah oder die vor allem in den USA verbreitete These einer strategischen "Achse des Bösen" aus Iran, Hizbu Allah und HAMAS sind weder hilfreich für eine politische Analyse, da sie die Kontexte des Handelns unberücksichtigt lassen, noch entsprechen sie den empirischen Tatsachen.

Erstens: Die HAMAS ist eine konservative islamistische Organisation, die ihre Basis vor allem ihrer Sozialarbeit zu verdanken hat und die bereit ist, sich in den politischen Prozess zu integrieren, wie sie bei den Wahlen im Januar 2006 gezeigt hat, aus denen sie als Sieger hervorgegangen ist. Sie hat nichts zu tun mit terroristischen Organisationen wie al-Qaida oder der ägyptischen Jama`at al-Islamiya, wie die verbreitete Kategorisierung "radikal-islamistisch" evoziert.[3] Im Gegenteil wurde die HAMAS immer wieder von der al-Qaida auf deren Websites angegriffen, weil sie angeblich durch ihre Kompromissbereitschaft, ihren Pragmatismus und vor allem die Beteiligung an der Wahl zum palästinensischen Legislativrat die Prinzipien des Islam hintergangen hätte. Die de-facto-HAMAS-Regierung im Gazastreifen soll den ägyptischen Behörden sogar Qaida-Mitglieder, die von Ägypten nach Gaza geflohen waren, ausgeliefert haben – einer der Gründe, warum die Ägypter in der Tunnelfrage immer wieder die Augen zudrückten.[4]

Zweitens: Aufgrund regionalpolitischer Konstellationen, vor allem im Verhältnis zu Israel, gibt es sicherlich gemeinsame Interessen zwischen Hizbu Allah und HAMAS. Von einer von Iran gesteuerten Achse zu sprechen, ist jedoch völlig überspannt. HAMAS steht moderaten sunnitischen Kräften ideologisch und politisch sehr viel näher als dem schiitischen Islamismus iranischer Prägung. In anderen Regionalkonflikten – zum Beispiel in der Irakfrage – haben HAMAS und Hizbu Allah große Differenzen und sind in völlig verschiedene regionale Allianzen eingebunden. HAMAS ist aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen – wie übrigens die Fatah in den 50er Jahren auch. Die Muslimbruderschaft lehnt außer als Form des Widerstandes gegen Besatzung und Fremdherrschaft Gewalt als Mittel der Politik ab und ist in vielen arabischen Parlamenten (Ägypten, Jemen, Sudan, Kuwait, Bahrain, Irak, Algerien) und einigen arabischen Regierungen (Irak, Algerien, die somalische Übergangsregierung) vertreten, im Irak stellt sie mit Tariq al-Hashimi sogar den stellvertretenden Präsidenten.

Drittens: Sowohl in der HAMAS wie auch in der Fatah gibt es militante Kräfte, die dem bewaffneten Kampf gegen die Besatzung Priorität einräumen, und politisch-pragmatische Flügel, die Verhandlungen vorziehen. Auch in der Fatah-Führung gibt es einen Flügel, der die Oslo-Verträge und die Road-Map ablehnt, weil sie die Palästinenser in eine Sackgasse geführt hätten, die nur der Stabilisierung der Besatzung der Westbank gedient habe. Dies ist z.B. die Position des Vorsitzenden des politischen Komitees der PLO und Mitglied des Zentralkomitees der Fatah, Faruq al-Qaddumi.[5] Die Tatsache, dass nie so viele jüdische Siedlungen in der Westbank gebaut wurden wie während des Oslo-Prozesses, macht die Argumentation Qaddumis glaubwürdig. Denn während über die Gründung eines palästinensischen Staates verhandelt wurde, wurden die infrastrukturellen Voraussetzungen dieses Staates systematisch zerstört. Niemand würde Qaddumi deswegen als Extremisten bezeichnen oder seinen Rücktritt fordern. Gleichzeitig wurde mit dem Argument, die HAMAS lehne die Osloer Verträge und die Road-Map ab, der HAMAS jahrelang die Aufnahme in die PLO verweigert, während die internationale Staatengemeinschaft ihr die Regierungsfähigkeit absprach.

Viertens: Der Konflikt zwischen der Fatah und der HAMAS ist vor allem ein politischer Konflikt um Macht. Jahrelang beanspruchten Teile der Fatah ein Monopol auf die Führung des palästinensischen Volkes (in der PLO und in der Autonomiebehörde). Kleineren Organisationen wurde nur die Rolle eines Juniorpartners zugestanden.

Fünftens: Der Konflikt zwischen der HAMAS und der Fatah ist vor allem Ausdruck der erwähnten Sackgasse des Friedensprozesses. Die Kritik der HAMAS an der Verhandlungsführung der Autonomiebehörde und der Kooperation der palästinensischen Sicherheitsorgane mit der Besatzungsmacht – die ja den Ausschlag für die Ausschaltung der von Muhammad Dahlan geführten Preventive Security im Gazastreifen gab – wird auch von anderen politischen Organisationen und Teilen der Fatah geteilt.[6]

Dem 6-monatigen Waffenstillstand im Gazastreifen waren viele Dilemmata immanent, die letztlich sein Scheitern vorprogrammierten. Im Folgenden sollen diese Dilemmata benannt und die Entfaltung des Waffenstillstandes empirisch nachgezeichnet werden, um so zu einer differenzierteren Diskussion über die Verantwortung des Bruchs dieses Waffenstillstandes beizutragen. Eine solche Bestandsaufnahme ist dringend notwendig, damit zukünftiges Konfliktmanagement nicht dieselben Fehler wiederholt. Es gibt sicherlich viele andere Faktoren und Akteure, die zu der Krise beigetragen haben: die innerpalästinensischen Differenzen, die schon erwähnte Sackgasse des Friedensprozesses, die Nichtanerkennung der HAMAS-Regierung durch die USA und die Europäische Gemeinschaft, um nur einige zu nennen. Diese wurden an anderer Stelle diskutiert und müssen sicherlich weiter diskutiert werden.

Insofern beansprucht das folgende Papier keinen Anspruch auf eine vollständige Krisenanalyse, sondern will nur exemplarisch an einem Punkt Anstoß zu einer Debatte geben.[7]

Von Ivesa Lübben

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